“Die Ermittlung“ von Peter Weiss: Warum dieses Thema?
Lesen Sie das Buch. Schauen Sie sich den Film von 1966 und die Neufassung von 2024 an. Hören und/oder lesen Sie Rezensionen zum Stück und zu den die aktuellen Auf- und Ausführungen. Die heutigen Konflikte und Akteure sind andere. Aber ganz gleich, ob Angriffskrieg in der Ukraine, der Terror vom 7. Oktober und der Krieg in Gaza, die Studentenproteste in Bangladesh: Überall agieren Menschen, glauben sich im Recht, führen Befehle aus, fügen anderen Leid zu oder erleiden selbst Unrecht, Folter, Gewalt…
Der Text von Peter Weiss dient als Basis, um darüber zu reflektieren, wie wir selbst agiert hätten, heute handeln (oder nicht handeln) und wie die Geschichte helfen kann, die eigene Verführbarkeit und Zufälligkeit der eigenen Existenz zu bedenken, sowohl in historischer wie in nationaler, kultureller, soziologischer oder religiöser Dimension. Auf welcher Seite des Grenzzauns wurden Sie geboren? Auf welcher Seite der Mauer wachsen Sie auf und leben(wie beim Film “The Zone of Interest”, “eine grauenhaft nüchterne Alltagsschilderung des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seiner Familie”. (Bettina Peulecke, NDR, 11.03.2024)
Die Frage ist, inwieweit es in unserem Ermessen liegt, ob wir Angeklagte oder Zeugen sind (werden), Handelnde oder Ertragende, Flüchtende oder Widerständige. Ob und wann wir uns schuldig machen u.v.m. Zur Bearbeitung gehört, nach Lektüre des Stücks und nach Rezeption der Filme, die Materialsammlung zu (aktuellen politischen, sozialen, kulturellen) Themen, die Entwicklung einer Methodik zur Beurteilung und Bewertung von Quellen, die Ausarbeitung der gegensätzlichen Argumentationen sowie die inhaltlich und visuelle Konzeption einer Kommunikationsstrategie zu einem der bearbeiteten Themen.
“Die Ermittlung“ von Peter Weiss
in Stück Theatergeschichte: “Die Ermittlung” ist ein Theaterstück des Dramatikers Peter Weiss von 1965, das den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters thematisiert. Es wurde am 19. Oktober 1965 im Rahmen einer Ring-Uraufführung an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie von der Royal Shakespeare Company, London, uraufgeführt. Die Ermittlung trägt den Untertitel „Oratorium in elf Gesängen“. Weiss selbst nahm als Zuschauer am Auschwitzprozess teil und entwickelte sein Stück aus den Protokollen Bernd Naumanns (TV-Film 1966. BRD. Regie: Peter Schulze-Rohr, Norddeutscher Rundfunk (NDR), Hamburg).
Video 1966: “Die Ermittlung”: Oratorium in 11 Gesängen (Peter Weiss, 1966)
“Die Ermittlung” ist in elf „Gesänge“ unterteilt. Diese sind nach thematischen Schwerpunkten gereiht und zeigen den Weg der Opfer von der Rampe bei der Ankunft in Auschwitz bis zum Feuerofen, sodass von immer grausameren Facetten der anonymen Massenvernichtung berichtet wird. Bewusst verzichtet Weiss auf ausschmückende Elemente. Das Bühnenbild soll sich auf einen nüchternen Gerichtssaal beschränken und jede Ablenkung von den Zeugenberichten vermeiden. Dem Stück ist seit den 1990er Jahren ausgeprägte Bedeutung im Rahmen der deutschen Erinnerungskultur zugefallen. Auszüge aus dem Stück sind wiederholt im Rahmen von Veranstaltungen am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vorgetragen worden. Die Ermittlung ist zudem häufig an exponierten Stätten außerhalb von Staats- und Stadttheatern aufgeführt worden, darunter in Justizzentren und Amtsgerichten, Rathäusern, Kirchen, ehemaligen Haftanstalten, Holocaust-Gedenkstätten sowie auf dem Reichsparteitagsgelände (Quelle: Wikipedia).
Im Jahr 2024 ist eine Neu-Verfilmung des Regisseurs RP Kahl in die Kinos gekommen. RP Kahl das berühmte Theaterstück von Peter Weiss als Hybrid aus Theater und Kino über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess aktualisiert (siehe NDR-Rezension).
FBW-Pressetext
Mit der Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks von Peter Weiss inszeniert RP Kahl die Protokolle und Aufzeichnung aus dem ersten Frankfurter Auschwitzprozess für das große Kino. Dabei ermöglicht er durch einen klug-reduzierten Einsatz der Mittel einen sachlichen und doch tief erschütternden Zugang zur Aufarbeitung der unfassbaren Verbrechen an der Menschlichkeit. Ein gewaltiges Werk, in jeder Beziehung.
Ein Richter, ein Verteidiger, ein Ankläger, 39 Zeugen und 18 Angeklagte bilden das Figurenpersonal von „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“. Das Stück basiert auf dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965), der zu den wichtigsten gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Gräueltaten der NS-Herrschaft im Konzentrationslager Auschwitz gehört. Geschrieben hat es im Jahr 1965 Peter Weiss, der als Zuschauer dem Prozess selbst beiwohnte Als Grundlage für das Stück wählte Weiss die Protokolle der Zeugen- und Angeklagtenaussagen, die Berichte der Presse und die Erinnerungen der Beteiligten. Als Aussagen vor Gericht sind diese geprägt von Sachlichkeit und – auf der Seite der Angeklagten – einer unmenschlichen Kälte und Überheblichkeit. So legen sie ein tief erschütterndes Zeugnis ab über ein barbarisches Verbrechen ungeahnten Ausmaßes.
Audio:
Walli Müller (2024) “Die Ermittlung”: Bewegender Film über Auschwitzprozess (NDR, Audio)
Daniella Baumeister(hr2-Kultur): Rezension von “Die Ermittlung” von Rolf Peter Kahl
Sendung: hr2-kultur, “Am Morgen”, 25.07.2024, 7:35 Uhr
Cornelie Ueding | 25.07.2024 | Das Schweigen über Auschwitz durchbrechen
Literatur und Quellen
Atze, Marcel: „Die Angeklagten lachen“. Peter Weiss und sein Theaterstück „Die Ermittlung“. In: Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main [Ausstellungskatalog]. Hg. v. Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts. Köln: Snoeck 2004, S. 782–807.
Lindner, Burkhardt: Im Inferno. „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Auschwitz, der Historikerstreit und „Die Ermittlung“. Frankfurt am Main: Frankfurter Bund für Volksbildung 1988.
Lindner, Burkhardt: Protokoll, Memoria, Schattensprache. „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist kein Dokumentartheater. In: Stephan Braese (Hg.): Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Göttingen: Wallstein 2004, S. 131–145.
Rühle, Günther: Versuche über eine geschlossene Gesellschaft. Das dokumentarische Drama und die deutsche Gesellschaft. In: Theater heute, 10/1966, S. 8–12.
Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen [1965]. Mit einer DVD des Fernsehspiels (NDR 1966, R.: Peter Schulze-Rohr). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.
Weiss, Peter: Meine Ortschaft. In: Ders.: Rapporte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 113–124.
Weiss, Peter: Inferno. Stück und Materialien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
Wendt, Ernst: Was wird ermittelt? In: Theater heute, 12/1965, S. 14–18.
Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1992, S. 110–139.